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Hörgeräte

Was sind die Kriterien der WHO zur Schwerhörigkeit?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat verschiedene Schwerhörigkeitsgrade definiert, die inzwischen als Basis für die Hörgeräteversorgung in Deutschland gelten. 

Ermittelt wird der Grad der Schwerhörigkeit durch ein Tonaudiogramm, bei dem der WHO-Grad nach der durchschnittlichen Tonhörschwelle ermittelt wird.

Wichtig: Bei der Messung wird ausschließlich das bessere Ohr berücksichtigt. So wird also nicht die Schwerhörigkeit jedes Ohres festgestellt, sondern lediglich die Höreinschränkung des weniger beschädigten Ohres als Maßstab genommen, um das Gesamtgehör zu beurteilen.

WHO-GradGrad der
Schwerhörigkeit
gemittelter Hörverlust
(0.5, 1, 2 und 4 kHz)
Unsere
Empfehlung
0keine Schädigung25 dB oder besser
1leichte Schädigung26 – 40 dBBeratung und ggf. Hörgerät
2mittelgradige Schädigung41 – 60 dBHörgerät empfohlen
3hochgradige Schädigung61 – 80 dBHörgerät notwendig
4Ertaubungüber 80 dBHörgerät kann helfen, zusätzlich außerdem Rehabilitation und ggf. Lippenablesen

Ein Hörverlust mit einem WHO-Grad ab 2 wird als Behinderung eingestuft. 

Beispiel: Ein Patient ist auf dem rechten Ohr taub und auf dem linken Ohr zeichnet sich eine beginnende Schwerhörigkeit ab. Nach WHO liegt hier noch keine Schwerhörigkeit vor. Dementsprechend wird das Gesamtgehör mit WHO 0 (keine Schädigung) beurteilt.

An diesem Beispiel sehen Sie, dass die WHO-Kriterien sehr grobmaschig bestimmen, ob ein Patient Hilfe durch ein Hörgerät benötigt oder nicht. Aber weshalb ist die WHO-Einstufung relevant?

Warum ist die Einstufung nach WHO relevant? 

Seit Märzt 2012 wird die graduelle Einteilung der Schwerhörigkeit von gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr nach Tabellen der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde erstellt, sondern gemäß der zuvor vorgestellten WHO-Klassifikation der Schwerhörigkeit.

Laut Prof. Dr. Brusis vom Kölner Institut für Begutachtung werden Schwerhörige durch die WHO-Kriterien benachteiligt:

„Einerseits stimmen sie nicht – trotz gleicher Bezeichnung – mit den in Deutschland anerkannten Schwerhörigkeitsgraden überein. Andererseits handelt es sich nur um eine grobe Bewertung, da lediglich das Gesamthörvermögen bestimmt wird, welches sich allein an dem besseren Ohr orientiert. Die größere Schwerhörigkeit des jeweils anderen Ohres bleibt unberücksichtigt.“

Prof. Dr. Brusis

Ein weiteres Beispiel unterstreicht diese Aussage:

Auf dem rechten Ohr liegt eine Taubheit und auf dem linken Ohr eine Normalhörigkeit vor. Die Einstufung nach WHO-Klassifikation ist in diesem Fall WHO 0 – also keine Schädigung. Da nur das bessere Ohr für die Messung zugrunde gelegt wird, fließt das rechte, von Taubheit betroffene Ohr, also nicht mit in die Bewertung ein.

Die vorliegenden Beispiele verdeutlichen, dass die WHO-Kriterien nicht geeignet sind, um die tatsächliche Höreinschränkung eines Schwerhörigen Patienten zu beurteilen. 

Leider werden die WHO-Kriterien trotzdem als Bemessungsgrundlage herangezogen, wenn es um die Bewertung einer Schwerhörigkeit geht. Und das wirkt sich auch auf die Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenkassen aus.

Bundessozialgericht entscheidet: Festbetrag der gesetzlichen Krankenkasse muss steigen

Das Bundessozialgericht urteilte im Jahr 2009, dass die Festbeträge für den hörprothetischen Ausgleich einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit nicht ausreichend war – in dieser Folge musste der Festbetrag erhöht werden. Daher gibt es nun 2 Festbeträge. Festbetrag I regelt die an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit und Festbetrag II alle anderen Schwerhörigkeitsgrade.

Prof. Dr. Brusis kritisiert das Verhalten der gesetzlichen Krankenkassen:

„Absolut nicht nachzuvollziehen ist aber Folgendes: Die WHO-Kriterien wurden vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen 2012 als Reaktion auf das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 17. Dezember 2009 eingeführt.“

Prof. Dr. Brusis, Kölner Institut für Begutachtung

Der Professor spricht in seiner Beurteilung von einem „Sparmodell der Krankenkassen“ und einer Missachtung des BSG-Urteils vom 17. Dezember 2009. Aber was zahlt die gesetzliche Krankenkasse bei Schwerhörigkeit denn nun wirklich?

Was zahlt die Krankenkasse bei Schwerhörigkeit? 

Seit Juli 2013 gilt ein Festbetrag für schwerhörige Versicherte von 733,59 €. So möchte der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) eine bedarfsgerechte Versorgung sichergestellt ist, ohne dass Patienten Mehrkosten zahlen müssen.

Aber wie wird diese Regelung von den Versicherten aufgenommen?

In einer im Juni 2019 veröffentlichten Pressemitteilung des GKV teilte Gernot Kiefer Ergebnisse einer Befragung von 3.457 Teilnehmern mit

Wir haben die Ergebnisse der Studie kurz für Sie zusammengefasst:

Beratungsqualität:

  • 87 % der Versicherten wurden über eine mehrkostenfreie Versorgung informiert
  • 69 % wurden mehrkostenfreie Geräte angeboten
  • weniger als die Hälfte der Befragten haben mehr als 1 Hörgerät getestet

Mehrkosten:

  • 70 % der Teilnehmer entschieden sich für eine Versorgung mit Mehrkosten
  • Im Durchschnitt zahlten Patienten 1.169 € Mehrkosten

Zufriedenheit:

  • 86 % der Befragungsteilnehmer waren mit der Versorgung sehr zufrieden
  • 81 % der Befragungsteilnehmer waren mit dem Hörgerät sehr zufrieden bzw. zufrieden

Kann ich mich von Mehrkosten befreien lassen?

Es gibt einige Regeln für eine Befreiung der Zuzahlungen bei der gesetzlichen Krankenkasse. Grundsätzlich gibt es verschiedene Höchst- bzw. Belastungsgrenzen, bis zu denen Sie Zuzahlungen leisten müssen. 

Pro Kalenderjahr liegt die Belastungsgrenze bei 2 % der Bruttoeinkünfte zum Lebensunterhalt aller im Haushalt lebenden Personen. Bei chronisch Kranken liegt die Grenze bei 1 %.

Beispiel für die Berechnung der Belastungsgrenze (Familie, 2 Erwachsene, 1 Kind unter 18)

  • Ehemann Jahresbrutto: 22.000 Euro
  • Ehefrau Jahresbrutto: 13.000 Euro
  • Jahresbrutto gesamt: 35.000 Euro

Freibeträge für 2020:

  • 5.733 Euro für den ersten Angehörigen (i. d. R. der Ehepartner)
  • 7.812 Euro (Freibetrag pro Kind)

Gesamtfreibeträge für die Familie:

  • 13.545 Euro

Jahresbrutto minus Gesamtfreibeträge:

35.000 – 13.545 = 21.455 Euro

Belastungsgrenze 2 %:

429,10 Euro

Es müssen daher Zuzahlungen bis zu einem Betrag von 429,10 € geleistet werden.

Wichtig: Die Krankenkasse benachrichtigt Sie nicht automatisch, sobald die Belastungsgrenze erreicht wurde. Daher sollten Sie in jedem Fall Quittungen aufbewahren und regelmäßig nachvollziehen, wo Sie gerade stehen. 

Sobald Sie die Belastungsgrenze erreicht haben, können Sie einen Antrag auf Zuzahlungsbefreiung stellen. Diesem müssen Sie folgende Dokumente beifügen:

  • Originalquittungen über geleistete Zuzahlungen (alle Angehörigen)
  • Kopien der Einkommensnachweise (z. B. Gehaltsbescheinigung)

Wird der Antrag bewilligt, erhalten Sie einen Befreiungsbescheid und müssen im Rest des Kalenderjahres keine Zuzahlungen mehr leisten. Die bereits zu viel geleisteten Zuzahlungen werden Ihnen von der Krankenkasse erstattet.

Wie wird der Grad der Schwerhörigkeit festgestellt? 

Das Vorgehen bei der Feststellung einer Schwerhörigkeit wird durch einen Hörtest (Tonaudiometrie) festgestellt. Hier wird für jedes Ohr ein Mittelwert bei bestimmten Frequenzen errechnet.

Die dB-Werte bei 0.5, 1, 2 und 4 kHz werden addiert und im Anschluss durch 4 geteilt, um den Mittelwert zu errechnen. Ein Beispiel verdeutlicht das Vorgehen:

kHzdB rechtes OhrdB linkes Ohr
0.53040
13040
25080
480110
Summe190260

durch 4 teilen
Mittelwert47,565

Wichtig: Bei der Bewertung zählt immer nur das bessere Ergebnis. In diesem Fall also der kleinere Wert (47,5). 

In diesem Beispiel würde also eine mittelgradige Schwerhörigkeit festgestellt werden (WHO 2), obwohl das linke Ohr bereits von einer hochgradigen Schwerhörigkeit (WHO 3) betroffen ist. 

Welches Hörgeräte passt zu welchem Schwerhörigkeitsgrad? 

Hier kommt es in jedem Fall auf die individuelle Hörsituation an. Wenn Sie viel unterwegs sind oder beruflich auf eine sehr gute Hörleistung angewiesen sind, macht es Sinn ein sogenanntes Hinter-dem-Ohr-Gerät (HdO) vorzuziehen. Diese Geräte sind zwar größer und sitzen sichtbar hinter dem Ohr, haben aber dafür auch eine leistungsfähigere Technik an Bord.

Wenn Sie sich nicht sicher sind, welches Hörgerät für Sie am besten geeignet ist, können Sie sich hier näher zu den einzelnen Geräten informieren: Hörgeräte kostenlos und unverbindlich testen.

Jan Becker, Tinnitus Selbsthilfe

Jan Becker

Gründer, Tinnitus Selbsthilfe

Herr Becker hat mit Hilfe von Hör-Experten und HNO-Ärzten alle wichtigen Informationen zu Tinnitus und anderen Hörschwierigkeiten auf diesem Portal aufbereitet.

Quellen und weitere Literatur

Die besten Hörgeräte Deutschlands im Test 2022.

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